[Text: Jan Thomas Otte] Ägypten, dann Libyen, Bahrain und Syrien. Auch Tunesien hat den Aufstand auf der Straße erlebt. Beeinflusst durch Blogs geht er im Netz weiter. Lina Ben Mhenni gehört dort zu den wichtigsten Meinungsführern. Ihr Ziel? Viel Demokratie, mehr Frauenrechte, kein politischer Islam.
Lina will nicht bloß politisieren und in die Zukunft denken. Sie will auch erinnern.
„Willst du den Esel meines Opas kaufen?“, fragt man mich. Im Studentenwohnheim, bei Nabil und Anis. Die beiden Tunesier teilen sich ein Zimmer, auf zehn Quadratmetern stehen Bett, Schreibtisch und Wasserpfeife. Mehr nicht. Das Visum sei schließlich teuer genug gewesen, sagen sie. Für ihren Deutschkurs sind sie nach Heidelberg gekommen, wollen lieber am Neckar als am Mittelmeer studieren.
Daheim in Tunesien gebe es einfach zu wenige Chancen, jeder dritte junge Tunesier sei arbeitslos. Mit einem Magisterstudium verdiene man dort weniger als 50 Euro im Monat, sagen sie. Zu wenig, um eine Familie ordentlich ernähren zu können, in der ein Mann das Geld nach Hause bringt, die Frau sich um Haushalt und Kinder kümmert. So sehen die beiden Jungs den Familienalltag, immer noch.
Lina Ben Mhenni arbeitet daran, das zu ändern. Alles begann 2008, irgendwo in Tunis, im Internet-Café. Schwarze Haare, ein Piercing in der Nase, lässiges Outfit. Sie sieht aus wie 18, als würde sie noch zur Schule gehen. Tut sie aber nicht. Die 28-Jährige betreibt eines der größten, reichweitenstärksten Blogs Arabiens. Sein Titel könnte kaum schlichter sein: „A Tunisian Girl“.
Ferienparadies ohne freie Meinung
Lina ist viel unterwegs, in ganz Europa. Dort bekommt sie Awards für ihren Blog, wird in den Medienrummel um den arabischen Frühling hineingezogen, fast alle großen Medien wollen ein Interview mit ihr. Doch nachts im fremden Hotelzimmer fühlt sich der neue Popstar der Blogszene einsam, trotz Tastatur und Bildschirm neben dem Kopfkissen. Früher, als sie ihren Blog noch nicht betrieb, krickelte sie sich ab und zu ein paar Notizen in ihr Büchlein, mitten in der Nacht.
Tagsüber mag sie helle Schuhe, trägt gerne mindestens ebenso helle Socken. Aber sie wirkt alles andere als grell. Sondern viel schüchterner, als man sie zu kennen glaubt. Am besten ausdrücken könne sie sich einfach hinter ihrem Laptop, eben nicht in einem überfüllten Raum, sagte sie bei der diesjährigen Preisverleihung des Best of Blog Awards 2011.
Im Reisebüro gegenüber liegen Hochglanzbroschüren, sie zeigen das, was Lina „das touristische Tunesien“ nennt. Eine TUI-Hotelanlage auf der Ferieninsel Djerba zum Beispiel, rundherum weite Olivenhaine und Sandstrände. Die seien doch ein krasser Gegensatz zu den damals ebenso sichtbaren, weißen 404-Error-Seiten mit der Meldung: „Diese Seite ist nicht erreichbar“.
Mit Handy und Laptop gegen den Diktator
Linas Blog wurde von der damaligen Regierung Tunesiens zensiert. Ihre Kamera wurde gestohlen, die Wohnung ihrer Eltern durchsucht, ihr Freund mehrere Wochen eingesperrt. Als in Tunesien grausame Dinge geschahen, war Lina am Ort. Sie war mittendrin, als sich das tunesische Volk Anfang 2011 zu heftigen Protesten erhob. Von Regierungseinheiten wurden die Demonstranten beschossen – mit scharfer Munition. Mehr als 50 Menschen starben. In Sidi Bouzid, wo sich zuvor ein Gemüsehändler anzündete, in Kasserine und anderswo.
Linas Ausrüstung für die Jasminrevolution bestand in einem Handy für Bilder, dem Laptop für den Text und einer Sim-Card für mobile Datenübertragung. Genug, um „Beweismaterial“ zu sichern, wie sie es nennt. Noch bevor die Propaganda des Diktators Ben Ali so etwas verwischen konnte.
Seit dem Sturz von dessen Regierung Anfang 2011 kann man Linas Blog unzensiert lesen. Allerdings berichtet sie nicht mehr so viel wie zur Zeit der Revolution. Zum einen, weil sie müde geworden sei. Zum anderen, weil es weniger Konkretes zu berichten gebe. Lina will nicht bloß politisieren und in die Zukunft denken. Sie will auch erinnern.
Gerade die von ihr fotografierten, in ihrem Blog festgehaltenen Namen der Toten, die bei den Unruhen erschossen wurden, sie gehen ihr nicht aus dem Kopf. Da ist Manel Boallagui, 26 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, tot. Und Raouf Kaddoussi, Mohamed Jabli Ben Ali, Moadh Ben Amor Khlifi, alle Anfang 20. Ihre Eltern hatten Lina gebeten, dafür zu sorgen, dass diese Namen nicht in Vergessenheit geraten.
Eine Revolution der Würde
In ihrem 46-Seiten-Büchlein „Vernetzt Euch!“ erzählt Lina Ben Mhenni ihre ganz persönliche, schon fast etwas veraltete Revolutionsgeschichte. Doch sie hat immer noch keine Antwort auf die Frage, was aus Tunesien werden wird. Tunesiens Revolutionsführer feiern bald ihren ersten Jahrestag. Lina schreibt in ihrem Blog, sie habe Angst, dass es wieder schlimmer wird: „I am worried, anxious … I am afraid of losing my identity, I am afraid of losing my rights as a woman. I am afraid of losing my freedom to think.”
Online-Kommunikation, das sei ihr Ding, sagt sie. Lina gefällt die Unmittelbarkeit des Geschehens, die Geschwindigkeit. Jenseits der Online-Welt will sie eine Auszeit nehmen, möglichst bald. Die Bloggerin war in den letzten Monaten viel unterwegs – mehr als ihr lieb ist. Sie reiste nach Norwegen, sprach beim „Oslo Freedom Forum“ mit leicht zittriger Stimme, stand dort neben Größen wie Julian Assange von WikiLeaks. Lina fuhr nach Bonn. Dort sprach sie bei der Deutschen Welle über Meinungsfreiheit im Nahen Osten.
Und eines betont sie immer wieder: Was sie da mache, dass sei keine Social Media-Revolution. Sondern „eine Revolution des Volkes, eine Revolution der Würde“. Auf der Straße hat alles angefangen. Im Netz geht es weiter, mit mutigen Köpfen wie Lina. Wohin? Wir werden sehen.
Zur Person: A Tunisian Girl
Lina Ben Mhenni (geb. 1983), unterrichtet Linguistik, Englisch, Französisch und Arabisch an der Universität von Tunis. Neben Artikeln für ihren eigenen, mit mehreren Preisen ausgezeichneten Blog schreibt sie für das internationale Blogger-Netzwerk Global Voices Online.
atunisiangirl.blogspot.com
www.globalvoicesonline.org
Meinungs- und Pressefreiheit in Tunesien
Unter Ex-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali hatte in Tunesien die regierungstreue, staatliche Nachrichtenagentur TAP das Monopol auf sämtliche Informationen. Wer sich öffentlich kritisch äußerte, wurde nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gemobbt, eingesperrt oder gar gefoltert. Nach Ben Ali Flucht wurde die nationale Einheitspartei RCD verboten. Eine Übergangsregierung soll für Oktober 2011 Neuwahlen organisieren, 77 Parteien haben sich beworben. In der Zwischenzeit wurden einige politische Gefangene freigelassen, das Ministerium für Kommunikation abgeschafft.